Von ganz, ganz unten

 Einige Kolleginnen, Kollegen und ich machen uns mit Schülern und Schülerinnen auf den Weg zur MuK und haben nur eine Ahnung davon, was uns dort erwartet. Angekündigt wurde durch die Schulleitung der Bericht eines Zeitzeugen des Nationalsozialismus. Mir gehen viele Gedanken durch den Kopf, die ein mulmiges Gefühl hinterlassen.

Wir gehören zu den ersten, die den Saal betreten, bekommen vordere Plätze, sehen den Präsidenten der Bundespolizeiakademie, Ulf Strand, und Monika Frank, die Senatorin für Kultur und Bildung, und können nun ca. 2000 Schüler, Schülerinnen, Auszubildende, Lehrkräfte und Studierende dabei beobachten, wie sie die beiden alten Menschen wahrnehmen, die hinter einem Tisch auf der Bühne sitzen, eingerahmt von Roll-Ups der Bundes- und niedersächsischen Landespolizei, sowie einer Werbung für das Buch „VON GANZ, GANZ UNTEN“. Es sind Dagmar und Ivar Buterfas-Frankenthal, die nach Lübeck gekommen sind, um zu erzählen, wie Ivar, Sohn einer christlichen Mutter und eines jüdischen Vaters, und seine Frau die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland er- und überlebt haben. Erschütterndes, Unbegreifliches tritt zutage; es ist mucksmäuschenstill in der MuK. Als Sechsjähriger musste der heute Neunzigjährige erleben, dass er als „Judensau“ auf dem Fahnenappell der Schule verwiesen und im Anschluss durch Mitschüler verfolgt, geschlagen und mit Zigarettenglut und Feuer gequält wurde. Auf die im Anschluss auf den Vortrag gestellte Frage, ob er auch schöne Erinnerungen an seine Kindheit habe, antwortet Buterfas: „Nein, keine einzige“. Bei manchen Zuhörern sieht man Tränen in den Augen. Der alte Mann berichtet fließend und dabei mahnend über diese dunkelste Zeit Deutschlands, den Überfall auf Polen, die Reichskristallnacht und Judenverfolgung, die Stellung der Polizei, über Zwangsarbeit, Konzentrationslager und Euthanasie, die Gräueltaten Josef Mengeles und Ilse Kochs. Immer wieder kehrt er zwischendurch ins Heute zurück und fordert seine Zuhörerschaft auf, sich deutlich gegen Neonazis, Rechtsextremismus und die AfD zu positionieren. Er erinnert dabei an die Brandanschläge in Hoyerswerda und Mölln und die Ermordung Walter Lübckes, den er persönlich kannte.

Buterfas erzählt von seinen wiederkehrenden Albträumen und seiner Sorge um die Demokratie. Genau sie ist es, die ihm die Kraft für mehr als 1500 solcher Veranstaltungen gab. Er will aufklären und aufrütteln. Und das gelingt ihm. Das macht der immer wieder spontan aufflackernde Applaus deutlich. Auf die von einem Schüler gestellte Frage „Was wünschen Sie sich?“ antwortet Ivar Buterfas-Frankenthal: „Ich wünsche mir, dass wir friedlich mit allen Völkern Europas zusammenleben können!“ Möge er als Friedens-Botschafter und Mahner mit seinen Vorträgen und Büchern viele Herzen erreicht haben und weiter erreichen!

Sigrid Susanne Awe im September 2023