Der 27. Januar ist Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus – diesen Tag nutzte die Hanse-Schule für einen Vortrag der besonderen Art: Tswi Herrschel entkam als Säugling den Nazis, weil seine Eltern das Baby in die Obhut einer 17-Jährigen gaben. Sie, die ihn aus dem Ghetto geschmuggelt hat, musste ihn anschließend bei einer anderen Familie verstecken, weil die Gefahr für das Baby zu groß geworden war. Diese Menschen sind dem Jungen Vater, Mutter und Geschwister gewesen, ihre Religion die seine. Bis er im Alter von acht Jahren von seiner Großmutter, einer ihm bis dahin unbekannten Frau, dieser Familie entrissen wird. Erst langsam kommt er im Laufe seines Lebens hinter das Geheimnis seiner Familiengeschichte, erst allmählich kann er sich dem Schrecken der Geschichte und der vielfachen Entwurzlungen stellen.

Als einer der jüngsten Überlebenden der Shoah steht er 74-Jährige vor 200 Schülerinnen und Schülern im großen Multifunktionsraum der Schule und erzählt aus seinem Leben. Er zeigt den Lebenskalender, den sein Vater gezeichnet hat, und vergleicht die hoffnungsvolle Vision seines Vaters mit der Realität, die mit Heirat und zwei Kindern dicht an der Vision ist. Über eine Stunde lang sind die jungen Zuhörer mucksmäuschenstill – sichtlich bewegt von dieser Lebensgeschichte. Er mahnt vor Ausgrenzung und Mobbing. Was im Kleinen begänne, nähme möglicherweise Ausmaße wie bei den Nationalsozialisten an. Am Ende spricht Herrschels Tochter Natalie, die als Kind mit ihren Fragen den Vater zu seiner Suche nach seiner Vergangenheit ermunterte. Sie spricht nicht so gut Deutsch wie ihr Vater, spricht deshalb Englisch zu den Schülerinnen und Schülern. Sie erzählt von der ihr fehlenden Familie: keine Großeltern, keine Tanten, keine Onkel. Es benötige vier Generationen, bis die Familie wieder vollständig sei. Auch wenn manch einer nicht jedes Wort versteht – die Botschaft kommt an.

Yad Ruth e.V. heißt der Verein, der die Reise der Herrschels von Israel nach Deutschland organisiert hat. Frau Gabriele Hannemann ist unser Gesicht bei Yad Ruth, der wir für diesen besonderen Vortrag danken. Nicht unerwähnt bleiben sollen die bewegenden Schlussworte des Staatssekretärs Dirk Loßack aus dem Bildungsministerium, der mit Tswi Herrschel vor zwei Jahren beim Besuch in Yad Vashem Freundschaft geschlossen hatte. Er forderte unsere Schülerinnen und Schüler auf, sich an den Wahlen im Frühjahr und im Herbst zu beteiligen um den Beschützern unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung – und davon gäbe es eine Vielzahl – ihre Stimme zu geben.

Text und Bild: Wiebke Hartmann, Januar 2017