Zum Holocaust-Gedenktag sprach die Zeitzeugin Sara Atzmon (84) in der Hanse-Schule. Sie überlebte als Zwölfjährige, 60 Mitglieder ihrer Familie starben
Von Cosima Künzel
Innenstadt. Sara Atzmon (84) ist eine Überlebende der Shoa. Um mit Schülern und Erwachsenen ins Gespräch zu kommen und gegen das Vergessen zu arbeiten, ist sie für elf Tage aus Israel nach Deutschland gekommen. In der Hanse-Schule sprach sie vor über 200 Erwachsenen und Schülern über ihr Leben. Sara Atzmon sitzt auf der Bühne in einem roten Sessel. Ihr Rücken ist gebeugt, aber die 84 Lebensjahre sind der Frau in Jeans und Ringelpulli nicht anzusehen. Still verfolgt sie die Musik von Volker Schauer vom Haus der Kulturen sowie die Begrüßungsreden von Rektorin Martina Weger, Kultursenatorin Kathrin Weiher und Initiatorin Andrea Finke-Schaak. Dann wendet sich Atzmon direkt an die Zuschauer in der vollbesetzten Aula.
„Ich will mich bedanken bei Euch, dass Ihr gekommen seid“, sagt die gebürtige Ungarin auf Deutsch. „Ihr seid meine Hoffnung. Ich hoffe, dass Ihr Euren Enkelkindern erzählen werdet, dass Ihr mich getroffen habt.“ Damit ihre Geschichte und der Holocaust nicht in Vergessenheit geraten, betont sie. Und dann erzählt Atzmon diese Geschichte. Eine Geschichte, die niemand im Saal so schnell vergessen wird. Als gebürtige Gottdiener wurde Sara Atzmon 1933 in Hajdunanas (Ungarn) als vierzehntes von sechzehn Kindern geboren. Schon in der Schule habe man sie als „schmutzige Jüdin“ beschimpft, und im Krieg musste die Familie alle Wertsachen abgeben. „Unseren Schmuck, das Klavier, alles.“ Angst sei in ihrer Kindheit allgegenwärtig gewesen, sagt sie. Als Sara sieben Jahre alt war, wurden ihr Vater und vier ihrer Brüder zur Zwangsarbeit eingezogen. 1944 wurde die Familie mit einem Transport nach Auschwitz deportiert. „96 Personen in Waggons, die waren so groß wie diese Bühne“, erzählt sie und zeigt auf die Fläche mit zwei Stühlen und Tisch auf dem Podium. „Es gab einen Eimer Wasser“, sagt sie und weiter: „Zehn Tage waren wir eingesperrt.“
An der polnischen Grenze hielt der Eisenbahnzug an und – nach einigen Tagen – fuhr er zurück nach Österreich ins Arbeitslager. 1944 starb ihr Vater in Österreich in ihrem Beisein an Erniedrigung und Hunger. „Ich habe einen Tag geweint und dann als Kind nie wieder.“ Im gleichen Jahr schickte man sie, im November, durch ein Desinfektionslager in Strasshof. Dort wurden sie für einige Tage nackt ausgezogen und „behandelt“. „Kinder, Schwangere und Frauen mit Blut auf den Füßen.“
„Als erstes sind die Babys gestorben. Wie die Mütter geschrien haben, das kann man sich nicht vorstellen,“ Sara Atzmon (84), Überlebende der Shoa.
Nackt mussten sie in der Kälte stehen. „Die deutschen Soldaten sind mit polierten Stiefeln zwischen uns herumgegangen.“ Über eine Stunde lang erzählt Sara Atzmon ihre Geschichte, als wäre sie gestern passiert. Manchmal bricht ihr die Stimme, manchmal spiegeln sich Schmerz und Wut darin wider. Auch als sie von Bergen-Belsen erzählt. Nur halb angezogen wurden sie in diese „verfrorene Hölle“ verschickt, wo sie jeden Tag stundenlang beim Appell im Schnee stehen musste. In diesem Lager verbrachte Sara etwa ein halbes Jahr. Jeden Tag musste sie mit ansehen, wie die Leichen zu den Krematorien abtransportiert wurden. Im April 1945 befreite das amerikanische Militär das Mädchen, Sara war zwölf Jahre alt und wog siebzehn Kilogramm. Ihr Vater, drei Brüder, vier Vettern, die Großmutter und insgesamt 60 Mitglieder ihrer Familie kehrten aus den Lagern nicht zurück.
Parallel zu Sara Atzmons Erinnerungen werden in der Aula Malereien und Filmausschnitte aus den Lagern gezeigt, die sich in die Seele brennen. Schon als Fotos sind sie kaum zu ertragen, für Sara Atzmon waren sie Realität. Nach der Befreiung musste sich das Mädchen entscheiden, nach Palästina oder nach Amerika auszuwandern. 1945 kam Sara Atzmon in Palästina an, heiratete 1954 Uri Atzmon und bekam sechs Kinder. Als sie in der Aula von ihren 22 Enkeln und acht Urenkeln erzählt, lächelt sie zum ersten Mal an diesem Abend. „Ich bin eine sehr stolze Großmutter.“ Sie betet jeden Freitag mit der Familie für den Frieden. Heute lebt Sara Atzmon in Israel und berichtet Menschen in der ganzen Welt nicht nur von ihrem Leben. Sie hat sich auch als Malerin einen Namen gemacht und ruft Workshops für die Begegnung zwischen deutschen, arabischen und jüdischen Menschen ins Leben, „um für besseres zwischenmenschliches Verständnis zu werben“.
Als Initiatorin der Veranstaltung anlässlich des Holocaust-Gedenktages (27. Januar) betont Lehrerin Finke-Schaak vom Ostsee-Gymnasium Timmendorfer Strand: „Bald haben wir nicht mehr das Privileg, mit Zeitzeugen sprechen zu können, dann sind wir Nachgeborenen in der Verantwortung, die Erinnerung wach zu halten.“
Quelle: Lübecker Nachrichten, Titel: Bilder des Grauens und Worte der Hoffnung, Cosima Künzel 01.02.2018